Sense and Sensibility. Porzellan und die fünf Sinne
Eine Ausstellung zum Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und Schmecken

Woher kommt es, dass Porzellan nach wie vor gerne als „weißes Gold“ bezeichnet wird, obwohl es heutzutage etwas ganz Alltägliches ist? Warum denken wir an Kostbarkeit, Reinheit und Empfindlichkeit, wenn wir das Wort hören? Es liegt an unseren Sinneserfahrungen – und Porzellan ist ausgesprochen sinnlich.

Porzellan ist ein Kunstmaterial. Es muss aus verschiedenen Rohstoffen gemischt und einer speziellen Prozedur unterzogen werden, um seine charakteristischen Merkmale zu erhalten: Weißgrad, Spiegelglanz, Transluzenz, Glätte, heller Klang, Härte, chemische Neutralität, Fragilität. Im Zusammenspiel dieser Eigenschaften liegt der Reiz des Porzellans und zeichnet es gegenüber allen anderen keramischen Werkstoffen aus. So stimuliert das Material die menschlichen Sinne auf jeweils eigene Weise. Die sinnliche Erfahrung ist dabei in ihrer Unmittelbarkeit unauflösbar mit dem jeweils individuellen Erfahrungsschatz verknüpft, über den der Sinnenreiz eingeordnet und gedeutet wird – und kaum eine Wahrnehmung geschieht nur über einen einzelnen Sinn. So hat es bereits Johann Gottfried Herder 1769 formuliert: „…laßet uns in unsere Kindheit zurückgehen: die ersten Begriffe von den Körpern, z. E. ihre Undurchdringlichkeit, Farbe, Figur, wie haben wir sie erlangt? Unmittelbar durch ein einzeln Gefühl? Nichts minder! durch viele einzelne Gefühle, durch das lange Gegeneinanderhalten derselben, durch Vergleichung und Urtheil, blos dadurch lernten wir sie bis zur Ueberzeugung.“ (1) Die individuellen Erfahrungswelten sind wiederum abhängig vom jeweiligen Lebenskontext: „Die Sinne machen also immer schon Sinn: Sie verleihen Bedeutungen, schreiben Werte zu, konstituieren Strukturen und etablieren Ordnungen. Dabei haben diese Bedeutungen aber eine leibliche, emotionale, tentative und offene Grundierung. […] die Bedeutung der Sinne [ist] „natürlich“ abhängig vom historisch¬ kulturellen Umfeld; und sie (re¬)präsentieren dementsprechend eine je historisch-¬kulturelle Sichtweise, Hörweise, Riechweise etc. von Selbst und Welt […]. Denn die Kinder lernen in der Regel genau jene Wahrnehmungs-¬ und Geschmacksmuster, die in ihrer individuellen sozio¬kulturellen Umwelt Gültigkeit besitzen […].“ (2)

Die Ausstellung zirkuliert um die sinnliche Erfahrbarkeit und entwickelt darüber eine für die Besucher*innen tatsächliche, erlebbare Onthologie des Materials Porzellan. Das kognitive Verstehen erhält dabei eine zusätzliche Verständnisebene durch multisensuelle Erlebnisangebote und Installationen mit künstlerischem Zugriff. Denn: „Die menschliche Entfaltung der Sinne kann nur in der Auseinandersetzung mit der entfalteten Kunst gelingen. Die Entwicklung der Sinne und der Sinnlichkeit ist kein bloßes Naturereignis, das natürlichen Entwicklungsgesetzen folgt, sondern kulturell und artifiziell konstituiert.“ (3) Auf diese Weise wird ein vertiefter Zugang zum Thema Porzellan ermöglicht, indem weder die Produkte einer bestimmten Provenienz noch deren künstlerische Gestaltung im Fokus stehen, sondern das Material als solches in seinem Ansprechen auf die menschlichen Sinne. Damit setzt sich die Ausstellung von den üblichen musealen Praktiken ab, die sich auf Produzenten- und Künstlergeschichten, Gestaltungs- und Zuschreibungsfragen, Technologie sowie Funktionalitäten konzentrieren. Ziel ist es, die Wahrnehmung auf das in der Alltagserfahrung ubiquitäre Porzellan zu schärfen und eine Reflexion über die Dimensionen eigener, auch determinierender Sinneserfahrungen sowie über das Zusammenspiel des Sinnlichen mit den persönlichen Erfahrungshorizonten zu induzieren, wie es Jörg Zirfas für das Konzept einer kulturellen Bildung pointiert: „Denn die qualitative Beschaffenheit der Welt ist einerseits vom kausalen Affi-ziertwerden der Sinne durch die Reize von Gegenständen und Situationen und andererseits von Erziehungs¬-, Lern¬-, Sozialisations¬- und Bildungsprozessen, d.h. vom kulturellen Kontext einer Lebenspraxis abhängig, in der die Sinnesempfindungen und Eindrücke differenziert werden und in denen ihnen Bedeutung zugeschrieben wird […].“ (4)

(1) Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder kritische Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen, Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste, 1769, in: Bernhard Suphan (Hrsg.): Herders gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1878, S. 9.
(2) Jörg Zirfas (2013 / 2012): Die Künste und die Sinne. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE:
https://www.kubi-online.de/artikel/kuenste-sinne (letzter Zugriff am 04.03.2021).
(3) Ebenda.
(4) Ebenda.